Johannes Anders
Musik - Journalist

Sardinien zwischen Archaischem und Avantgarde

Filmmusik-Projekt beim Basler Festival JAZZ BY OFF BEAT/JSB 2002


Schon die CD-Dokumentation mit Aufnahmen zweier Konzerte, die im Rahmen von Aufführungen mit Paolo Fresus Filmmusik-Projekt „sonos ‘e memoria“ im sardischen Cagliari und Sassari gemacht wurden, war aussergewöhnlich und musikalisch ereignisreich (vergl. „J’N’M“ Nr.3/2001, S.33: "Sonos 'e Memoria", ACT 9291-2).

Also war man zu Recht höchst gespannt darauf, wie das selten realisierte Projekt live wirken würde, waren doch auch hier wie auf der CD eine Reihe der wichtigsten, sardischen MusikerInnen der verschiedenen Musikbereiche angesagt: Die Sängerin Elena Ledda, die es versteht, auf alten Liedtraditionen und mediterranen Gesängen aufzubauen, aber auch moderne Songvarianten und Jazziges einfliessen lässt, einfühlsam begleitet vom Mandola-Spieler und langjährigen Parter Mauro Palmas; dann Luigi Lai, der virtuose, zirkular-atmende Maestro auf der dreistimmigen Schilfrohr-Trippelklarinette Launeddas, deren Wurzeln 2500 Jahre zurückreichen; weiter das Falsett-Stimmen einbeziehende Männer-Gesangsquartett Coro „Su Concordu è su Rosario“ di Santulussurgiu, das eindringliche, archaische Assoziationen auslöste; und dann eine Reihe Musiker, die u.a. auch im modernen Jazz aktiv sind: der vitale Akkordeon-Exzentriker Antonello Salis, der auch Ausbrüche in freies Spiel inszenierte, Furio di Castri, Bass, Federico Sanesi, Percussion, Carlos Cabiddu, Violoncello, und nicht zuletzt der prominente Trompeter, Flügelhornspieler, Komponist und Leiter des Ensembles, Paolo Fresu.

Film und Musik eng verzahnt

Nach einem rund einstündigen Konzert, in dem in fliessenden Übergängen und wechselnden Konstellation von Soli bis Tutti ein spannendes Kaleidoskop sardischer Musiken zwischen Traditionellem und Zeitgenössischem, alten Gesängen und instrumentalen Jazzimprovisationen ausgebreitet wurde, souverän geleitet vom vital und ideenreich agierenden Paolo Fresu, wurde im zweiten Teil des Abends der mit Spannung erwartete Film gezeigt, zu dem das Ensemble, wiederum in verschiedenen Besetzungen, live spielte und improvisierte und so dichte Momente korrespondierender Bild- und Toneindrücke entstehen liess. Der rund halbstündige, stumme Film besteht aus bis in die dreissiger Jahre zurückreichendem Filmmaterial, das der anwesende Autor Gianfranco Cabiddu im Römer Filmarchiv Instituto di Luce nach Sichtung von tausenden Filmmetern fand und im Stile eines unprätentiösen Dokumentarfilms zusammenschnitt. Er zeigt in eindrücklicher Unmittelbarkeit Szenen aus dem sardischen Alltag - Fischer, Hirten, Minenarbeiter, Frauen beim Festen und bei der Arbeit, Prozessionen, Volksfeste, Reiterszenen, Salzgewinnung, Olivenernte, aber auch Kirchen und Nuraghen und immer wieder das Meer. Überwältigend das grosse Finale mit allen Mitwirkenden - Begeisterungsstürme des Publikums, Zugabe...!

Johannes Anders



 

 ©JAZZ 'N' MORE 3/2002
© Fotos: PD


 

SONOS ‘E MEMORIA

„Music directed by Paolo Fresu“

(ACT 9291-2 / MV)



 



„Music & Orginal Soundtrack from the Film of Gianfranco Cabiddu“, heisst es im Untertitel dieser in vielerlei Hinsicht aussergewöhnlichen Edition. Der sardische Autor Gianfranco Cabiddu hat im Instituto di Luce (Archiv für Filmgeschichte) tausende von Filmmetern visioniert mit dem Ziel, Material zu finden, das möglichst unmittelbar, echt und emotional bewegend Einblicke in sardisches Leben, sardischen Alltag und sardische Kultur ermöglicht. Die so wiederentdeckten Filmsequenzen, die bis in die dreissiger Jahre zurückgehen,  montierte er dann, ohne ihren jeweiligen Aufbau und Ablauf durch Zwischenschnitte zu verändern, zu einem Ganzen, einem eigentlichen Epos sardischer Existenz zwischen Tradition und Moderne. Für die Realisierung eines entsprechenden Film-Soundtracks, von dem Cabiddu vorschwebte, dass er live zu den Filmprojektionen gespielt werden solle, zog er den auch international bekannten sardischen Trompeter, Komponisten, Festivalleiter und Jazzmusiker Paolo Fresu hinzu, eine Persönlichkeit, deren Charakter wie der von Cabiddu durch eine grosse Liebe zum eigenen Land, zu Sardinien, geprägt ist. Fresus Aufgabe war es, zur visuellen, Emotionen auslösenden Kraft und dem Rhythmus der Filmbilder ein musikalisches, ebenfalls das Gemüt ansprechendes Pendant zu kreieren, in dem entsprechend dem Film, alte, archaische Formen wie auch moderne Bezüge zur traditionellen Musik Sardiniens wirksam werden sollten. Und so kommen im jeweils parallel zur Filmprojektion entstehenden Soundtrack wichtige, alte Musikarten Sardiniens zur Geltung, wie sie der virtuose Maestro Luigi Lai auf der aus drei Schilfrohren bestehenden, auf 2500 Jahren Tradition basierenden Trippelschalmei Launèddas spielt, oder wie sie das tradionelle Sängerquartett  „Su Concordu ‘e su Rosariu“ di Santulussurgiu singt. Aber auch moderne, auf alten Traditionen aufbauende Liedvarianten der sardischen Sängerin Elena Ledda werden einbezogen, oder spannende Jazzverbindungen und improvisatorische Ausflüge in freie Klangebenen, die bekannte, sardische Musiker und Jazz-Protagonisten in verschiedenen Konstellationen kreieren wie zum Beispiel Atonello Salis, Akkordeon, Furio Di Castri, Kontrabass, Federico Sanesi, Perkussion, und natürlich Paolo Fresu, Trompete, und musikalische Leitung. Obwohl die den Film-Soundtrack wiedergebende, unter anderem bei Filmprojektionen in Cagliari und Sassari aufgezeichnete Musik auf der vorliegenden CD natürlich nur einen Teil dieses vielversprechendes Gesamtkunstwerks “Sonos ‘E Memoria“ darstellt, ist der musikalische Eindruck so repräsentativ und eindrücklich, dass diese Aufnahmen auch ohne den Film Gültigkeit  besitzen und Faszination auslösen. ja


© JAZZ 'N' MORE 3/2001

  



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